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Brückenbauerin zwischen den Kulturen

Einst Abiturientin am Baesweiler Gymnasium: Heute ist Diplom-Architektin Medine Altiok international gefragt.

VON BEATRIX OPRÉE

BAESWEILER/ZÜRICH/AACHEN Vom Baesweiler Gymnasium aus in die Welt. Durchaus als Vorreiterin. Und auf jeden Fall als Mittlerin zwischen Kulturen. Absolventin Medine Altiok ist stringent ihren Weg gegangen. Und wird ihn weiter gehen. Wir treffen die 47-Jährige in ihrem neuen Büro an der Jakobstraße in Aachen. Eine nächste Station, nicht nur, um eine deutsche Adresse zu haben, sondern natürlich auch, um Neues zu projektieren. Und die Doktorarbeit zu vollenden.
Kombi aus Zahlen und Kreativem

Vielleicht war es tatsächlich der Beratungslehrer kurz vor dem Abitur, der ihr Leben mit geprägt hat: „Warum nicht Architektur?“, habe der damals angeregt: „Das hat von unseren Schülern schon lange keiner mehr gemacht.“ Medine Altiok lacht, als sie sich daran erinnert, 1993 war das. „Mathe und Physik waren meine Leistungskurse. Es gab damals nur zwei Frauen mit dieser Fächerkombination.“

Eine besondere Herausforderung? Eher nicht, die Tochter türkischer Einwanderer, die Eltern betreiben eine Metzgerei in der Broicher Siedlung, ist zielstrebig. „Ich war auch gut in Kunst“, erzählt sie. Eine Kombi aus Zahlen und Kreativem schwebte ihr beruflich vor. Kurz habe sie noch über den damals neuen Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen nachgedacht, sich dann aber doch – der Numerus Clausus gab es her – für die Architektur entschieden. „Und da war ich in unserem Abi-Jahrgang dann auch die einzige.“

Während des Hauptstudiums wechselte sie von der RWTH Aachen nach London an die Architectural Association School of Architecture (AA), eine der renommiertesten Einrichtungen der Architekturausbildung weltweit. Ein Vortrag des international preisgekrönten Londoner Architekten David Chipperfield, Mitglied des Royal Institute of British Architects (RIBA) sowie Ehrenmitglied des American Institute of Architects und des Bundes Deutscher Architekten, hatte den Ausschlag dazu gegeben. Fasziniert von seinen Arbeiten wurde sie im Anschluss an sein Referat kurzerhand bei ihm vorstellig, wollte wissen, wo er denn studiert habe. Unter anderem an der AA. Es kam zum konstruktiven Austausch mit dem berühmten Vorbild, und hochmotiviert machte sich Altiok daran, die stattlichen Hürden fürs Studium auf der Insel zu bewältigen: hohe Schulgebühren, das geforderte umfangreiche Portfolio und schließlich eine Aufnahmeprüfung. Mit Empfehlung zweier Professoren und teilfinanziert durch Bafög für ein Jahr Auslandsstudium ging es schließlich nach London. Wo sie ihr Studium so erfolgreich anging, dass die AA ihr für weitere zwei Jahre ein Stipendium gewährte, um den Abschluss machen zu können. Sie wurde beste Absolventin ihres Jahrgangs, und die AA nominierte ihre Abschlussarbeit für den RIBA-Award für studentische Arbeiten. Zudem wurde sie in einer britischen Fachzeitschrift publiziert.

Danach war es wieder ein Schwergewicht der Branche, das Medine Altiok inspirierte, zu neuen Ufern aufzubrechen: eine Ausstellung samt Vortrag des Schweizer Bauingenieurs Jürg Conzett in London. „Er hat mir damals Statik und Konstruktion so inspirierend vermitteln können wie bis dahin niemand“, erzählt Altiok. So kam es, dass sie ein Lehrangebot der AA ablehnte, um in die Schweiz überzusiedeln, wo sie zunächst für Architekturbüros in Chur, dann in Bern arbeitete und schließlich – „ich hatte schon immer auch Interesse gehabt zu unterrichten“ – zur Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) nach Zürich wechselte. Freischaffend hat sie überdies an Architektur-Wettbewerben teilgenommen, legte zudem ein Postgraduierten-Studium an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHDK) ab.

Ganz besonderes Projekt

Sie hatte gerade eine Gastprofessur in Istanbul inne, als sie eine Anfrage der Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH (DEGES) für ein ganz besonderes Projekt erreichte: für den Bau eines Wasch- und Gebetshauses auf dem muslimischen Teil des Friedhofs Finkenriek in Hamburg-Wilhelmsburg, das im vergangenen Jahr, während der Pandemie, fertiggestellt worden ist.

Eine Projektmanagementgesellschaft für Fernstraßen als Auftraggeberin? Die Verlegung einer Autobahn war der Auslöser, erklärt Altiok die Hintergründe. Rund 40 muslimische Gräber mussten dafür umgebettet werden, ein Vorhaben, das bei allen Beteiligten viel Einfühlungsvermögen erforderte. Zusammen mit der muslimischen Gemeinde und der Stadt Hamburg sei schließlich vereinbart worden, auf dem Friedhof ergänzend ein Wasch- und Gebetshaus zu errichten, wie es sich die Gemeinde schon länger gewünscht hatte. Geplant – ebenfalls auf Wunsch der sieben involvierten Imame – von einem muslimischen Architekten. Auch in einem ausführlichen Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) zum Thema, hat Altiok ihre anfängliche Unsicherheit dargelegt, ob die Imame sie als Frau für diese Aufgabe akzeptieren würden. Sie wurde überrascht, traf auf große Offenheit ihren Plänen und ihrer reduzierten, auf das Wesentliche ausgerichteten architektonischen Formensprache gegenüber. Das Ergebnis ist ein sandsteinfarbiger Ziegelbau, der durch seine zaghafte Ornamentik ebenso fasziniert wie durch seine klaren Strukturen. Mittlerweile ist das Friedhofsprojekt nominiert für den Mies-van-der-Rohe-Award 2022 und steht auf der Shortlist für den DAM-Preis des Deutschen Architekturmuseums.

Eine weitere Arbeit auf einem Friedhof ist Altiok in diesem Jahr angegangen: die bedarfsgerechte Instandsetzung von vier 50 Jahre alten Gebäuden auf dem Friedhof Uetliberg in Zürich.

Durch Architektur Brücken schlagen zwischen den Kulturen – „das ist ein Aspekt, der mich besonders interessiert“, sagt Altiok. Ebenso wie nachhaltige Bauweise, für die sie nicht zuletzt im kommenden Semester durch eine eigene Studienreihe werben möchte. In noch verbliebenen rund 40 tscherkessischen Dörfer in der Türkei möchte die Diplom-Architektin, die selbst muslimisch-tscherkessische Wurzeln hat, mit Studierenden zusammen erforschen, wie die traditionelle, in Hitze und Kälte bewährte Lehmbauweise zukünftig und mit Blick auf moderne Standards und Lebensverhältnisse Anwendung finden könnte. Die Abdullah-Gül-Universität Kayseri habe bereits Interesse an einer Zusammenarbeit signalisiert. Erfahrung mit der Leitung von Studienworkshops hat Altiok reichlich, schon für die Londoner AA hat sie mit internationalen Studierenden im Mittelmeerraum gearbeitet.

Vorhaben in Baesweiler

Über ihre Nominierung zum DAM-Preis sei zuletzt die Wüstenrot-Stiftung auf sie aufmerksam geworden, sagt Altiok. Die Stiftung lobt zweijährlich einen Architekturpreis aus, aktuelles Thema: „Das zukunftsfähige Einfamilienhaus?“ Medine Altiok wird als Mitglied der sechsköpfigen Jury die architektonischen Lösungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in Augenschein nehmen und beurteilen.

Bleibt – fast nebenbei – die Heimat. Praktikannt*innen sucht sie noch für ihr Büro in Aachen, zwecks Mitarbeit an einem Wohnhaus-Projekt und an Wettbewerben. Voraussetzung: „Interesse an poetischer Architektur und an einer Entwurfsmethodik, die konventionelle und experimentelle Herangehensweisen kombiniert.“

Und da ist noch ein Grundstück in Baesweiler: Zusammen mit ihrem Bruder möchte sie hier ein nachhaltiges Bauprojekt umsetzen.

INFO

Festschrift zum Jubiläum des Gymnasiums

„Die Vergangenheit mit der Zukunft verbinden“ – das, so Schulleiter Markus Fabricius, sei das Ziel gewesen, mit der das Redaktionsteam die Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Gymnasiums der Stadt Baesweiler entwickelt hat. „Wir können auf eine spannende, bunte und ereignisreiche Zeit zurückblicken“, schreibt der Schulleiter und schildert die Anfänge mit 75 Schülerinnen und Schülern über den Umbau zum Passivhaus bis zum Blick in die Zukunft mit bereits 107 Neuanmeldungen für das kommende Schuljahr. 50 Jahre, so sagt Rita Barbier für das Redaktionsteam, können nicht wirklich in einer Festschrift abgebildet werden. Aber man habe Schwerpunkte setzen können, auf 163 Seiten. Dabei widmete sich das Team mit Margret Odenkirchen, Wilhelm Merschen, Markus Fabricius, Stefan Schaum (Elternvertreter), Wichard Johannsen, Giuseppe Marinotti (Schüler) und Rita Barbier auch dem umfangreichen außerunterrichtlichen Schulleben. Auf 37 Seiten sind Bilder aller aktuellen Schülerinnen und Schüler zu finden. Die Festschrift ist für  5 Euro im Sekretariat  erhältlich. (GvF)

Erschienen in der Aachener Zeitung, 31.12.2021